Platz 8 der Spiegel-Bestsellerliste: Lilly Lindners autobiographische Erzählung „Splitterfasernackt“ trifft als Leidensgeschichte einer jungen Frau das Interesse der LeserInnen.
Lindner musste in ihrem Leben ertragen, was kein Mensch unbeschadet aushält: Selbstmord der Mutter, Missbrauch, Magersucht, sexuelle Gewalt, Prostitution. Davon erzählt ihr Buch.
Ihre Lesung gestaltet Lindner als Performance mit einer Mischung aus Text, Musik und Körpersprache. Die gelesenen Texte erzählen kaum, sie deuten an oder sie deuten. Lilly Lindner liest leise, lautlos fast. Wie ein kleines Mädchen, mit Zöpfen, ohne Schuhe auf Strümpfen, zerbrechlich und schutzbedürftig tritt sie vor ihr Publikum. Mal steht sie hoch oben auf dem Tisch, den Blicken ausgeliefert, dann wieder liegt sie zusammengekauert mit angezogenen Knien auf dem Boden. Partner Oliver bietet mit starken Armen immer wieder den Ort der Sehnsucht an, hält sie, fängt sie auf.
Ein Meer von Papierschnipseln verstreut die Autorin im Raum, Erinnerungen wie verrückt, wie fügt man sie zusammen? Sie wirft rote Wollfäden ins Publikum: Verheddert Euch nicht in den roten Linien meiner Erinnerungen!
Wie kann man von solch extremen Erlebnissen erzählen, ohne im Geifer nach aktueller Frauen-Opfer-Literatur aller Schattierungen zu versinken? Lilly Lindner versucht den Spagat der Widersprüche: Mädchen - Identität, Verletztheit - Präsentation. Die Zuschauer spüren, wie die Aufführung eine Verarbeitung der schlimmen Erlebnisse, ein praktisches Bekenntnis zum Leben ist. Zum Leben im Moment der Gegenwart. Das Schwierigste gelingt Frau Lindner mit ihrem Auftritt: sie verrät ihre Geschichte nicht an die Sensationslust. Kein Betroffenheitskitsch, kein Einlass für Voyeure. Das Vergangene verschwindet nur langsam. Die Gegenwart ist Schreiben und Literatur: Lilly Lindner liest.
RIE